Bioethik im Wunderland der Fiktion. Über die Rolle eines antizipierenden Diskurses am Beispiel des Psycho- und Neuroenhancement

Autor/innen

  • Anne Brüninghaus Universität Hamburg
  • Günter Feuerstein Universität Hamburg

DOI:

https://doi.org/10.18156/eug-2-2012-art-9

Abstract

Den bioethischen Diskurs charakterisieren zwei Arten der Unsicherheit: zum
einen ist er mit dem Nicht-Wissen um zukünftige Verhältnisse, Risiken und
deren gesellschaftliche Folgen konfrontiert, zum anderen bewegt er sich in
wert-pluralen Orientierungssystemen, die zu unterschiedlichen ethischen Be-
gründungsmustern und Normen führen. Teils sind moderne bioethische Kon-
zepte wie der Prinziplismus aber auch nicht instruktiv genug, um eindeutige
Aussagen zu generieren und ethische Grenzziehungen zu markieren, die
über ihren Entstehungs- und Verwendungskontext hinaus dauerhaft Gel-
tung haben. Speziell die moderne bioethische Normbildung erweist sich als
ein Prozess der Dauerrevision moralischer Urteile und enttäuscht gesell-
schaftliche Erwartungen an ihre normative Orientierungsfunktion durch
den Eindruck der relativen Beliebigkeit ihrer Aussagen. Ein charakteris-
tisches Beispiel für die Fiktion eines rationalen Diskurses und die Orien-
tierungslosigkeit einer Disziplin ist der bioethische Diskurs um das Psycho-
und Neuroenhancement.

Der vorliegende Artikel beleuchtet den aktuellen gesellschaftlichen und
wissenschaftlichen Diskurs um das Neuro-Enhancement, verstanden
als medikamentöse Veränderung und Verbesserung des Einzelnen,
und die Rolle der Bioethik im Prozess seiner Durchsetzung und Eta-
blierung. Insbesondere wird die Frage nach einer antizipierenden
Bewertung durch die Bioethik gestellt. Dabei gehen wir davon aus,
dass Bioethik bei der Folgenabschätzung vor Probleme gestellt wird,
weil zum einen die konkrete Anwendung von wirksamen Enhancment-
Substanzen noch nicht in der Praxis angekommen ist, der Gegenstand
selbst sich einer eindeutigen Beurteilung entzieht, und zum anderen
die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart als plural und re-
lativ orientierungsarm zu kennzeichnen sind. Vor diesem Hintergrund
plädieren wir für eine Kombination von ethischer und gesellschafts-
theoretischer Forschungsperspektive.

Two kinds of uncertainty characterise the bioethical discourse: (1) It is
confronted with non-knowledge on future conditions, risks and their
societal consequences. (2) Plural values lead to different ethical
justification patterns and norms. Modern bioethical concepts, such as
principlism, are not instructive enough to generate unambiguous state-
ments and promote ethical demarcations that hold effective outside of
their native context. Especially modern bioethical standards develop-
ment proves to be a process of constant revision of moral decrees.
It disappoints societal expectations towards its normative function as
it creates the appearance of relative arbitrariness of its conclusions.
A characteristic example for the pretence of a rational discourse and
the disorientation of a discipline is the bioethical discourse on psycho-
and neuro-enhancement.

This article examines the public and scientific discourse on neuro-en-
hancement, understood as the use of medication to alter and change
the individual. Further, it probes the role of bioethics in the process of
accepting and establishing neuro-enhancement, and explores the
existence of anticipatory bioethical assessments. Here, we assume
that assessments prove difficult for bioethics as effective enhance-
ment drugs have not yet found wide application, and thus the subject
itself eludes an explicit judgement. Further, today's plural society offers
relatively few cues for orientation. To resolve some of the identified
issues, we pledge for a combination of ethics and social science per-
spectives

Autor/innen-Biografien

Anne Brüninghaus, Universität Hamburg

Anne Brüninghaus, Dipl.-Päd., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin im FSP BIOGUM der Univ. Hamburg. Arbeitet u.a. zu individuellen Auswirkungen prädiktiver genetischer Diagnostik und dem außer- wissenschaftlichen Diskurs der Systembiologie.

Günter Feuerstein, Universität Hamburg

Günter Feuerstein, PD Dr. phil., Studium der Soz. in Berlin, Habilitation an der Fakultät für Gesundheitsw., Univ. Bielefeld. Seit 1997 Forschungsgr. Medizin/Neurowissenschaften am Forschungsschwerpunkt Biotechnologie, Gesellschaft und Umwelt, Univ. Hamburg.

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