Nr. 1 (2010): »Wem gehört die ›Soziale Marktwirtschaft‹?« Herkunft und Zukunft einer bundesrepublikanischen Erfolgsformel
Die bundesrepublikanischen Feierlichkeiten zu »60 Jahre Soziale Marktwirtschaft« aus
dem Sommer 2008 waren kaum ausgeklungen, als wir im Herbst von der großen Wirt-
schafts- und Finanzkrise überrascht wurden; einer Krise, in der zunehmend deutlich
wurde, dass die in der Publizistik soeben noch emphatisch gepriesene Erfolgsgeschich-
te der Sozialen Marktwirtschaft vielleicht gar nicht so erfolgreich war, wie man meinte.
Jedenfalls ist heute unübersehbar, dass die real bestehende Soziale Marktwirtschaft in
breiten Teilen der Bevölkerung nur noch wenig Vertrauen genießt und durch die vor-
herrschende Wahrnehmung, dass es »im Lande nicht mehr sozial gerecht zugeht«,
unter erheblichen Legitimationsdruck gerät.
Was unter Sozialer Marktwirtschaft aber genau zu verstehen ist, genauer gesagt: was
das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft ist und wie bzw. von wem dieses Soziale
konstituiert und garantiert werden soll, ist dabei durchaus unklar; und zwar nicht erst
heute, sondern schon vor 60 Jahren. Die Wahrnehmungen und Interpretationen in
Wissenschaft, Politik und Publizistik, in Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und
Kirchen unterscheiden sich hier nicht selten ganz erheblich. Und es ist deshalb an der
Zeit der Frage nachzugehen, ob wir eigentlich alle dasselbe meinen, wenn wir von der
Sozialen Marktwirtschaft reden.
Vor diesem Hintergrund widmete sich im Januar 2010 die Jahrestagung der »Ökume-
nischen Arbeitsgemeinschaft sozialethischer Institute« (ÖASI) – ein im Jahr 2001 ge-
gründeter Zusammenschluss verschiedener christlich-sozialethischer Forschungsin-
stitute, die in ökumenischer Perspektive die Interaktion und Kooperation innerhalb
des Faches verbessern will – dem Thema: Wem gehört die Soziale Marktwirtschaft?
Herkunft und Zukunft einer bundesrepublikanischen Erfolgsformel. Auf dieser Ta-
gung sollte es vor allem um das in den letzten Jahren in der vergleichenden Wohl-
fahrtsstaatsforschung deutlich gewachsene theoretisch-systematische Interesse an
den lange Zeit wenig thematisierten »konfessionellen Wurzeln« der Konzeption einer
Sozialen Marktwirtschaft gehen. Dabei stand insbesondere die Frage im Raum, in-
wiefern sich die politisch-moralischen Grundlagen des deutschen Wirtschafts- und
Sozialmodells gewissermaßen als »interkonfessioneller Kompromiss« (Philip Manow)
zwischen einem eher sozialstaatskritischen Lager protestantisch-ordoliberaler Pro-
venienz einerseits und einem vor allem am Sozialversicherungsstaat orientierten
katholisch-»rheinischen« Lager andererseits beschreiben lassen.
Die Ausgabe 1/2010 der »Ethik und Gesellschaft« präsentiert Texte und Kommentare,
die aus dieser Tagung hervorgegangen sind. Sie will damit eingreifen in die Debatten
um das politisch-moralische Selbstverständnis dessen, was »Soziale Marktwirtschaft«
ist und sein soll; und sie will in historisch-systematischen Vergewisserungen der Frage
nachgehen, inwiefern diese »konfessionellen Wurzeln« – womöglich in hochgradig sä-
kularisierter Form – für die aktuellen Krisen- und Regenerierungsdebatten um »unsere
Soziale Marktwirtschaft« auch heute noch relevant sind. Die Tatsache, dass die ver-
schiedenen Beiträge dieses Heftes hier zu kontroversen Einschätzungen gelangen,
macht deutlich, dass diese Frage allemal aktuell ist und wohl auch bleiben wird.