Nr. 2 (2022): Narrative der Sozialpolitik – Narrative der Sozialstaatskritik

Schreibmaschine mit schwarz-rotem Farbband. Schriftzug: "Stories matter".

Bild: Suzy Hazelwood von Pexels

Sozialpolitik ist ein ausdifferenziertes Feld – mit vielen, recht unterschiedlichen »Baustellen«. Bezogen auf verschiedene, zumeist über staatlichen Institutionen vermittelte Leistungen sind die ausdifferenzierten Felder mit ihren angestammten Akteuren, ihren vorgegebenen Themen und ihren typischen Konflikten eigensinnig; und sie hängen dennoch zusammen, ›brauchen‹ einander, verweisen aufeinander und wirken in ihren Zusammenhängen. Gleichwohl passen die sozialpolitischen Debatten nicht in ein System – und gleichwohl gibt es Sozialpolitik nicht in einem Guss.

In den politischen Debatten macht man sich deshalb die Gemengelage sozialpolitischer Leistungen und den Sozialstaat einfacher – und ›erzählt‹ davon in Narrativen. Man ›erzählt‹ einander, warum, was und wie der Sozialstaat ›für die Menschen‹ oder ›für die Gesellschaft‹ da ist oder da sein soll. In entsprechenden Narrativen kommt in eins, was zeitgleich nebeneinander besteht und doch keine Einheit ist. Vereinfacht wird, indem bestimmte Strukturen und bestimmte Leistungen hervorgehoben und andere hingegen verschwiegen oder stillschweigend vorausgesetzt werden. Vor allem aber wird das narrativ erzeugte Ganze mit Sinn ausgestattet – und dieser Sinn ausdrücklich intendiert. Man ›erzählt‹ einander, warum und wozu das Ganze eigentlich da ist und wieso es gut ist, dass es da ist. Narrativ wird der Sozialstaat ›erzeugt‹, von dem ›erzählt‹ wird.

Seit den 1980er-Jahren bemüht man damals neue Erzählungen, wie etwa die vom ›aktivierenden Sozialstaat‹ oder dem ›Gewährleistungsstaat‹, um sozialpolitische Reformen in großen und d.h. Felder übergreifenden Würfen anzustoßen, Reformen untereinander abzustimmen und gesellschaftlich zu bewerben. Indem man den Sozialstaat neu und anders ›erzählt‹, betrieb man Sozialpolitik – und war darin erfolgreich. Da sich diese Narrative inzwischen verbraucht haben, versucht man es gegenwärtig mit neuen Narrativen – und hält sie für dringend notwendig, um den ›Sozialstaat von morgen‹ auf den Weg zu bringen.

Mit Narrativen arbeitet auch die Sozialstaatskritik. Gegen die offizielle Komplexität erzählt sie, wie der Sozialstaat wirklich ›ist‹, wie er tatsächlich wirkt und was er mit den Menschen ›macht‹, die auf seine Leistungen angewiesen sind. Gegen den schönen Schein werden die ›wahren‹ Geschichten über ›den Sozialstaat‹ erzählt. Narrative bringen die Sozialstaatskritik auf den Punkt – und sorgen dafür, dass die jeweilige Kritik evaluativ und affektiv besetzt wird.

In dieser Ausgabe von ethikundgesellschaft werden Narrative der Sozialpolitik und der Sozialstaatskritik vorgestellt. Zwei Beiträge (Tanja Klenk und Johanna Kuhlmann) führen in die sozialpolitische Narrationsforschung ein und stellen den Forschungsstand dar. Sodann werden Erzählungen über den Sozialstaat untersucht, der in Zeiten der Pandemie heroische Staat (Johanna Kuhlmann) sowie der ›Gewährleistungsstaat‹ (Matthias Möhring-Hesse). Christoph Butterwegge untersucht Narrative über Arme und Arbeitslose im Mediendiskurs über Hartz IV und Bürgergeld – und Stephanie Simon die Narrative, die im Kontext der extrem-rechten und der rechtspopulistischen Sozialpolitiken zur Bekämpfung von Armut eingesetzt werden. In den fünf Beiträgen finden die Leser:innen dieses Themenheftes Hinweise darauf, warum und wie über den Sozialstaat erzählt wird und wie Sozialpolitik »gemacht« und Sozialstaatskritik betrieben wird, indem der Sozialstaat erzählt wird.

Die Übersicht über Narrative der Sozialpolitik und der Sozialstaatskritik ist keineswegs vollständig, im Gegenteil: Sie bedarf dringend vieler zusätzlicher Beiträge. Sollten Autor:innen durch die vorliegenden Artikel motiviert werden, einen dieser zusätzlichen Beiträge zu schreiben, sind sie dazu herzlich eingeladen.  Diese Ausgabe von ethikundgesellschaft kann erweitert werden.

Redaktion: Matthias Möhring-Hesse

 

TRennlinie

Im Besprechungsteil werden fünfzehn Neuerscheinungen aus verschiedenen Disziplinen abgedeckt. So geht es im Bereich der Sozialethik um einen neuen Band zur Zukunft der Sorgearbeit und um ein neues Lehrbuch sowie im Bereich der Soziologie um das ›Soziale Orte‹-Konzept, die Theorie der Gabe und den Einfluss der Rechten auf dem amerikanischen Kontinent. Besprochen werden auch die Autobiografie Thomas von Freybergs und das gerade erst erschienene Buch Franz-Xaver Kaufmanns zur ›katholischen Kirchenkritik‹. Auch im Bereich der politischen Philosophie wird wieder ein breites thematisches Feld abgedeckt: Angefangen bei einer neuen Ideengeschichte des Reaktionären und einem Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Dietrich Braun, über den Utilitarismus John Stuart Mills und die jüngste Politische Philosophie Frankfurter Provenienz bis hin zur neuen Monografie des französischen Demokratietheoretikers Pierre Rosanvallon. Abgerundet wird dies schließlich durch  Besprechungen von zwei neueren philosophischen Publikationen - eine zum Konflikt der Generationen, die andere zur Rolle des Wassers.

Redaktion: Hermann Josef Große Kracht und Tim Eckes

Veröffentlicht: 14.02.2023

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