Nr. 1 (2024): Ge|teilte Wirklichkeit
Bild: Maximilien Luce (1858-1941): Le chantier (1911), Musée d‘Orsay (ID: 78195), © RMN-Grand Palais (Musée d’Orsay) / Hervé Lewandowski.
Wie in den anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen geht es auch in der Sozialethik – gleich in welchem Zusammenhang man sie betreibt – um soziale Wirklichkeit. Dass man diese Wirklichkeit nicht für sich allein hat, sondern gemeinsam mit anderen teilt, das scheint alltäglich selbstverständlich: Menschen finden ihre Wirklichkeit immer bereits vor. Sie ›gehören‹ ihr an – und sie ›gehört‹ ihnen niemals allein. Sie teilen sie immer schon mit anderen Menschen, die – gleich ihnen selbst – diese Wirklichkeit als ihre Welt ›haben‹. Auf diese Anderen sind Einzelne angewiesen. Nur mit ihnen haben sie eine gemeinsame Welt, bewegen sich in einer Welt und verstehen sich in ebendieser; nur mit anderen handeln sie in einer gemeinsamen Welt, – und nur so gestalten sie diese Welt und verändern sie. Insofern haben es Menschen immer mit einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit zu tun.
Betreibt man Sozialethik, interessiert man sich insbesondere für die Gestaltung von gemeinsam geteilten Wirklichkeiten – und für einen prominenten Ort dieser Gestaltung: Politik. An diesem Ort wird die Deutung gemeinsam geteilter Wirklichkeiten ausgehandelt – und deren zukünftige Gestaltung. Dazu verständigt man sich, wie die gemeinsam geteilte Wirklichkeit gestaltet werden soll und aus welchen Gründen dies so sein soll. In solchen deliberativen Prozessen setzen die jeweils Beteiligten voraus, dass sie eine gemeinsame Wirklichkeit teilen. Stellen sie in den politischen Auseinandersetzungen fest, dass dies nicht der Fall ist, endet Politik – es sei denn, sie können sich (wieder) auf eine gemeinsame Sicht ihrer Wirklichkeit verständigen. Politik ›braucht‹ geteilte Wirklichkeit in einem zweiten Sinn: geteilte gemeinsame Wirklichkeit.
In dieser Ausgabe handelt ethikundgesellschaft von geteilter Wirklichkeit. Die Beiträge bewegen sich mit je eigener Schwerpunktsetzung zwischen den beiden Seiten: Auf der einen Seite geht es um gemeinsam geteilte Wirklichkeit: Wie ist eben diese Wirklichkeit beschaffen? Beziehen sich geistes- sowie sozialwissenschaftliche Urteile auf eine vorgegebene, im engeren Sinne objektive Wirklichkeit oder aber auf geteilte, aber kontingente und sozial geschaffene Wirklichkeit? Welches Verständnis von Wirklichkeit verfügt über welches emanzipatorische Potential? Welche Implikationen ergeben sich aus dem Verständnis von Wirklichkeit für die Sozialethik? Auf der anderen Seite geht es um geteilte gemeinsame Wirklichkeit: Wie lassen sich Teilungen von gemeinsam geteilter Wirklichkeit erklären? Mit welchen Teilungen hat man es in gegenwärtigen Auseinandersetzungen zu tun? Wie ist auf diese Teilungen einzugehen? Welche Rolle spielen sie für die wissenschaftlichen Theorien, die sich auf die politisch verhandelte Gestaltung von sozialer Wirklichkeit beziehen?
Redaktion: Manuela Wannenmacher
Im Rezensionsteil werden 15 neue Bücher aus verschiedenen Fächern und Disziplinen besprochen. So werden eine neue Troeltsch-Biographie, neue Studien zu Hannah Arendt und Gotthold Ephraim Lessing, ein Buch zur politischen Philosophie des Liberalismus und eine Publikation zu einer ‚Theorie der Befreiung‘ aus dem Kontext Kritischer Theorie vorgestellt. Präsentiert werden zudem aktuelle Studien aus den Sozialwissenschaften und der Politischen Theorie zum ‚autoritären Liberalismus‘ und zur ‚Demokratiedämmerung‘, aber auch Publikationen zur Ethik des Computerspiels, zur Friedenstheologie, zum Verhältnis von Theologie und Digitalisierung sowie zur Philosophie der Digitalisierung. Hinzu kommen Texte zum Verhältnis von theologischer Ethik und Menschenwürde, zum Reformbedarf im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften, zum Bedingungslosen Grundeinkommen sowie zur Grundlegung einer modernen Unternehmensethik. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und Stöbern.
Redaktion: Tim Eckes und Hermann-Josef Große Kracht